Wenn man Dale Degroff Glauben schenken möchte (und das tun wir) so ist Harry Johnson’s Martini Cocktail aus seinem „Bartender’s Manual“ von 1888 weitaus dem Martinez ähnlicher als ein Martini Cocktail heutzutage. Somit scheint hier die Thronfolge geklärt - der Martinez ist der üppige König und sein feudaler Sohn wohl der Martini Cocktail mit seiner Erbfolge Sweet, Perfect und Dry.

Der Martini Cocktail und seine zwei gemäßigten Erblinge regierten jedoch nicht lange, da der jüngste Sohn, der Dry Martini, einen Staatsstreich anzettelte und bald als der eigentliche Martini gelten wollte. Dieser zeugte fröhlich unterschiedlichste Nachkommen, die wiederum um die Aroma-Popularität kämpften. Da gibt es die Linie der Zitrusfrüchtler, ein weiterer Zweig ist die vegetabile Familie, für die Zitrusfrüchte ein Gräuel sind, und sich stattdessen mit Oliven (grün und schwarz, mit und ohne Stein) vergnügen, und die Absonderlinge, die sich mit Zwiebeln und Ähnlichem schmücken – beherrschend außergewöhnlich in dieser revolutionären Generation ist da vielleicht der Dirty Martini.

Doch, alles auf Anfang:

Es war einmal, ein König…: 
Wenn man nun den Martini-Stammbaum mit dem eines königlichen Geschlechts vergleichen will, gibt es da bekanntermaßen viele Mitglieder, aber immer nur eine dominierende Persönlichkeit. In der ersten Generation haben wir Martinez, Turf Club und Marguerite, die alle für sich beanspruchen, der Urahne des Martini zu sein. Doch scheint tatsächlich der Martinez sämtliche Nebenbuhler verdrängt zu haben.

Die Blutlinie: 
Der Martinez:

1861 eröffnete in San Francisco das Occidental Hotel seine Pforten, das alsbald der Treffpunkt der feinen Leute an der amerikanischen Westküste wurde und auch berühmte Persönlichkeiten zu seinen Gästen zählte. In der Bar dieses Hotels, das bereits beim großen Erdbeben von 1906 wieder völlig zerstört wurde, war auch der wohl berühmteste Bartender Amerikas, der „Professor“ Jerry Thomas, etliche Zeit tätig. Er behauptete selbst, dort den Martinez Cocktail kreiert zu haben, den er nach der Stadt Martinez benannte, weil viele seiner Gäste dort in dieser Bar allabendlich auf die Fähre warteten, die sie nach Martinez übersetzen sollte. 
So lautet das Rezept aus Jerry Thomas’ „Bartenders Guide“ von 1862:

1 dash of Boker’s Bitters 
2 dashes of Maraschino 
1 pony (ca. 1 US oz/ca. 3 cl) of Old Tom Gin 
1 wine glass (ca. 6 cl) of Vermouth 
2 small lumps (Brocken) of ice  „Shake up thoroughly and strain into a large cocktail glass. Put a quarter of a slice of lemon in the glass and serve. If the guest prefers it very sweet add two dashes of Gum Syrup.“

Zu einer Zeit als die industrielle Revolution begann Fahrt aufzunehmen, steigend Arbeitsplätze in der Stadt entstanden, Männer nie ohne Hut das Haus verließen, Amerika noch lange nicht „trockengelegt“ wurde und die Damen der feinen Gesellschaft große Empfänge gaben, entwickelte sich das urbane Leben und der Cocktailgenuss gehörte zunehmend dazu. Natürlich auch in den sogenannten Gentlemen Clubs…

Der Turf Club:

Benannt wurde dieser frühe Klassiker nach dem Turf Club in New York, einem echten Gentlemen Club des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wo sich der Mann von Welt (und nur dieser!) mit seinesgleichen traf, um dort zu essen, zu rauchen, zu trinken, zu spielen oder zu lesen, ungestört von jeder weiblichen Anwesenheit. Dieser Club hatte seinen Namen nach der englischen Bezeichnung für Pferderennsport erhalten, es handelte sich also auch um eine Art „Jockey Club“, wo natürlich die Gelegenheit für Pferdewetten bestand. Den New York Turf Club gibt es übrigens heute noch, wenn auch nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz. Der New York Turf Club hatte seine damalige Bleibe in dem Eckhaus Madison Avenue und 26th Street. Dieses als „Jerome Mansion“ bekannt gewordene Gebäude erbte Jennie Jerome, die durch ihre Heirat mit Lord Randolph Churchill zur Lady Churchill wurde und spätere Mutter des zukünftigen britischen Premiers Winston Churchill - und wie ihr berühmter Sohn einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. 
Wer genau den „Turf Club“ Cocktail erfand, läßt sich heute nicht mehr mit Gewissheit belegen, seine erste schriftliche Erwähnung findet er im Jahre 1884 in dem Werk „How To Mix Drinks – Barkeeper’s Handbook“ von George Winter, der folgendes Rezept angab:

2 – 3 dashes Peruvian Bitters (hptschl. auf der Grundlage der dortigen Chinarinde und Bitterorangen)
half wine glass (ca. 3 cl) Old Tom Gin
half wine glass (ca. 3 cl) of Italian Vermouth „Fill glass three quarters full of fine ice, stir well with spoon and strain in fancy cocktail glass, then serve.“ Knapp zwei Jahrzehnte nach dem „Turf Club“ erschien eine Rezeptur in der Blutlinie des Martinez, die heute bei den antiquierten Klassikern als sogenannter „missing link“ zählt. Die Geschmackswandlung von süß zu trocken zeichnete sich ab.

Die Marguerite:

Die erste schriftliche Erwähnung findet sich in Tim Daly’s 1903 veröffentlichtem Buch „Daly’s Bartenders Encyclopedia“ mit folgender Rezeptur:

2 dashes of Orange Bitters
1 dash of Orange Curaçao
half wine glass (ca. 3 cl) of French Vermouth
half wine glass (ca. 3 cl) of Plymouth Gin „Half fill with fine ice, stir well with spoon, strain into a cocktail glass, twist a piece of lemon peel on top, and serve.“

Die nächste Erwähnung 1904 sieht einen großen Schritt in der Entwicklung hin zu einem „modernen“ Drink, als Thomas Stuart in seinem Werk „Stuart’s Fancy Drinks And How To Mix Them“ folgendes Rezept veröffentlicht:

2/3 Plymouth Gin 
1/3 French Vermouth
1 dash Orange Bitters Hier erfolgte also die Abwendung vom süßen Charakter des Cocktails, und gleichzeitig nimmt der Gin auch mengenmäßig zu. Fazit: Auch nach heutigen Maßstäben ein ziemlich trockener Drink!

Zur lückenlosen Recherche und chronologischen Gegenüberstellung sei hier eine außerordentliche Rezeptur erlaubt, die laut Dale Degroff bereits 1850 von Jerry Thomas kreiert wurde und von ihm in seinem grundlegenden Werk „Bartender’s Guide“ von 1862 niedergeschrieben wurde:

Der Gin Cocktail:

3 or 4 dashes of Gum Syrup
2 dashes of Boker’s Bitters
1 wine glass of Holland Gin (vermutlich Genever)
1 or 2 dashes of Curaçao

Im Prinzip ist hier bereits die Grundidee für den Martini Cocktail schon verborgen, nur daß der süßherbe Curacao noch den Platz des Vermouth/Wermut einnahm. Noch süßer wurde dieser Cocktail durch die Zugabe von Gum Syrup, dem „Sirope de Gomme“, (eine französische Zuckersirup-Spezialität mit Gum Arabicum, das Harz des arabischen Gummibaums, das zu einem geschmeidigeren Charakter führte und den Sirup nicht kristallisieren ließ - zur Zeit der „Belle Epoque“ auch gerne in Frankreich zum Süßen des Absinths verwendet).

Welcher Gin-Stil verwendet werden soll, wird hier von Jerry Thomas im Buch in zwei Rezepturen spezifiziert, da in dem „Gin Cocktail“ von einem Holland Gin gesprochen wird, womit vermutlich zu jener Zeit noch der Genever gemeint war, da erwiesenermaßen die USA bis 1880 noch sechsmal so viel Genever wie Gin importierten. In dem zweiten Rezept, dem „Old Tom Gin Cocktail“ ist eindeutig die gesüßte Gin-Variante gemeint, was zu dieser Zeit beim Gin noch der übliche Standard war.

Teilweise ist in alten Cocktailbüchern auch von „Bogart’s Bitters“ zu lesen, dabei handelt es sich um denselben Bitter, jedoch lediglich um die falsche Wiedergabe des Namens „Boker’s Bitters“. Dieser Bitter war einer der populärsten des 19. Jhdt., der zurück geht auf den deutschstämmigen Johann Gottfried Böker, der nach seiner Immigration um ca. 1825 zunächst eine Wein- und Spirituosenhandlung in New York eröffnete und später amerikanischer Konsul in Deutschland und der Schweiz wurde. Während der Prohibition verschwand „Boker’s Bitters“ und wird erst seit wenigen Jahren nach dem wiederentdeckten Originalrezept wieder hergestellt:

siehe hier:

Doctor Adams - Bokers Bitters

The Bitter Truth - Bokers Bitters

Die Geburt des Martini:

Wir erinnern uns an die Einleitung und die erste Erwähnung eines „Martini Cocktail“ 1888 im „Bartender’s Manual“ von Harry Johnson, den zweiten berühmten Bartender der noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Martini Cocktail:

2 or 3 dashes of Gum Syrup
2 or 3 dashes of Boker’s Bitters
1 dash of Curaçao
half wine glass (ca. 3 cl) of Old Tom Gin
half wine glass (ca. 3 cl) of Vermouth „Fill a large bar glass with ice. Stir well with a spoon, strain into a fancy cocktail glass, put in a cherry or medium-sized olive (if required) and squeeze a lemon peel on top and serve.“

Im späten 19. Jhdt. aber noch, wie es zu der Zeit ein Cocktail verlangte, mit Bitters und Zucker (in dem Fall mit Gum Syrup) und italienischem „süßen“ Vermouth zubereitet.

=> Laut Firmenhistorie wurde „Martini & Rossi“ 1863 im Piemont gegründet, entwickelte sich rasch zu einer der beliebtesten Wermut Marken und dank dem Geschick und Weitblick der vier Söhne von Luigi Rossi zu einem der frühen und bis heute größten italienischen Exportschlagern. So wurde ab ca. 1880 von Pessione aus in die Welt exportiert.

=> Es ist also nicht auszuschließen, dass schon Harry Johnson von diesem Wermut so überzeugt war und seinen mit „Martini & Rossi“ kreierten Drink schlicht und ergreifend den „Martini Cocktail“ genannt hat!!! That’s it!

=> Ab 1813 entwickelte der Lyoner Likörmacher Joseph Noilly die Rezeptur eines französischen Vermouth. Aufgrund der Rohstoffe vor Ort zieht er nach Marseillan an die franz. Mittelmeerküste und gründet mit Claudius Prat ein Unternehmen das ab 1855 den „Noilly Prat“ Vermouth auf den Markt bringt. Der trockene französische Wermut war in der neuen amerikanischen Barwelt erst ab ca. 1896 zu kriegen und ist heute noch Standard für trockenen französischen Vermouth.

Somit ist anzunehmen, dass die zunehmend trockenere Variante des ursprünglichen „Martini Cocktail“ mit trockenem Wermut und dem trockenen London Dry Gin (nicht wie Old Tom Gin bei Johnson) erst um die Jahrhundertwende entstanden sein kann. Natürlich in diesem Fall nicht mehr mit dem süßherben „Martini & Rossi“, was letztlich zwar den Namen geprägt hat, aber jetzt nicht mehr gerechtfertigt gewesen wäre. Man darf hier dem in die Jahre gekommenen „Martini Cocktail“ durchaus ein Techtelmechtel mit der jungen „Marguerite“ vorwerfen.
Abgesehen davon gab es zu dieser Zeit einen Headbartender namens Martini di Arma di Taggia im neueröffneten Knickerbocker Hotel in New York, der wohl durch diese eher moderne und trockene Variante in die Geschichte eingegangen ist und ebenso wie sein „Martini“ dadurch berühmt geworden sind.

siehe hier:

Hotel where the martini originated

Dale Degroff nennt ihn aus dem Grund auch den „Knickerbocker Martini“, die Rezeptur sah neben Bitters, einen dash Orange Curaçao und zu gleichen Teilen trockenen Gin und trockenen Wermut vor.

Erst nach der Prohibition, als der Gin wieder genießbarer war, waren es vorrangig Nick & Nora Charles aus dem Filmklassiker „The Thin Man“ aus dem Jahre 1934 und President Franklin D. Roosevelt (der selbst in seiner Studienzeit hinter der Bar stand) die den jüngsten Abkömmling, den „Dry Martini“ populär machten. In der Rezeptur waren es da schon 3 Teile dry Gin zu 1 Teil dry Vermouth und bereits ohne Bitters. Der Nick & Nora Martini, wie Degroff ihn nennt, sah schon die Olive mit Stein als Garnitur vor, während der „Knickerbocker Martini“ noch die Zitronenzeste wünschte. 
Zum Erfolg dieser trockenen Variante trugen viele Prominente bei, die ihre Männlichkeit durch nach und nach stärker werdende Martini zu beweisen suchten. So wurde der Wermutanteil auf ein fast „unwirkliches“ Minimum reduziert - zu nennen sind da Hemingway und speziell Churchill (wir gedenken hier seiner Mum und dem Turf Club), dem eine Verneigung Richtung Frankreich schon genug trocken war.

Machohafter, aber umso verwirrender in der Wahl der Spirituosen, sollte dann ein zukünftiger Leinwandheld namens James Bond den „Dry Martini“ nun plötzlich mit Vodka trinken. Sein bekannter Ausspruch „geschüttelt, nicht gerührt“ kommt schon im ersten Bond-Buch Casino Royale von 1953 vor, als Autor Ian Fleming seinen Romanhelden einen sehr ungewöhnlichen Martini bestellen lässt. Üblich waren Martinis mit Gin und französischem Wermut, die in einem Cocktailspitz serviert wurden - über die Frage „geschüttelt oder gerührt“ herrschte keine Einigkeit. Bond hingegen bestellte Gin und Wodka in Kombination mit dem französischen Aperitif „Kina Lillet“, der Drink sollte zudem geschüttelt, in einem kleinen Champagnerkelch serviert und mit einem Stück Zitronenschale garniert werden. Später taufte Bond diese Variante „Vesper“, nach seiner Gespielin Vesper Lynd. Das Rezept wird auch in der Verfilmung von 2006 zitiert. In den weiteren Filmen konsumiert James Bond zahllose weitere Martinis in verschiedenen Varianten und aufgrund der wachsenden Product-Placement-Lobby im Filmbusiness sind das sehr oft geschüttelte Vodka-Martinis. Auffällig ist, dass in den Filmen Vodka Martinis vorherrschen, während Bond ursprünglich in den Büchern häufiger zu Scotch Whisky, auch als Scotch & Soda, oder zu Bourbon Whisk(e)y greift. Zudem war Ian Fleming bekennender Gin-Trinker und Mitglied in einem altehrwürdigen Londoner Gentlemen Club, aus dem heraus der „Boodles“ London Dry Gin bekannt wurde.

Es scheint eine so komplexe Erbfolge zu sein, was eigentlich bedeuten würde, dass der Martini eine ganze Dynastie von Drinks und nicht nur ein einzelner Cocktail ist. Im Zuge der aktuellen Renaissance in der Barszene und die Wiederentdeckung alter Trinkklassiker besinnen wir uns auch gerne zurück. Und gerade diese Wandlungsfähigkeit dieses Klassikers wird weiterhin sein Überleben sichern!